(H)Auszeit, Leute!
Bild: Retha Ferguson
„Die Situation ist ernst und sie ist offen. […] Es kommt ohne Ausnahme auf jede*n von uns an!“ Bundeskanzlerin Angela Merkel ist nicht gerade für wilde Performances oder Dramatik bekannt. TV-wirksame Vorträge gibt es höchstens zu Neujahr – Merkels letzte Ansprache, in der sie an die Kooperation und Solidarität der Bevölkerung appelliert, sollte klarmachen: Das ist der letzte Warnschuss! Ihre Worte waren wohl trotz allem noch zu sanft und blumig – denn viele haben den Ernst der Lage noch immer nicht verstanden.
Der neue Knigge: Stay the fuck home!
Eigentlich sind die Empfehlungen zur Corona-Krise, mit denen wir im Minutentakt zugeballert werden, relativ klar:
Kindergartenähnliche Skizzen fürs richtige Händewaschen befolgen.
Öffentliche Verkehrsmittel so wenig wie möglich nutzen.
In die Armbeugen niesen, wenn es denn unbedingt sein muss, aber eigentlich am besten gar nicht mehr niesen. Oder sonst wie alarmierend atmen.
Die dringlichste Anweisung lautet jedoch, physische soziale Kontakte zu vermeiden, um die Ansteckungsgefahr so gering wie möglich zu halten und die Verbreitung des Virus’ zu verlangsamen. Kurz gesagt, bleibt bitte verdammt nochmal zuhause!
Social Distancing mit 534 Lunch-Dates?
Der Appell steht nicht erst seit gestern im Raum, aber spätestens die Schließung von Schulen, Kitas, Kneipen und Clubs, Zwangsurlaub und verordnetes Homeoffice sowie die Absage sämtlicher Veranstaltungen, müssten doch gezeigt haben, dass ein gemeinsames Miteinander gerade alles ist, was es unbedingt zu verhindern gilt, um unser Gesundheitssystem vor einem Kollaps zu bewahren. Wenn man sich aber die gut besuchten Innenstädte, Cafés und Restaurants so ansieht, wird deutlich: Die Leute geben einen Scheiß drauf! Da wird dicht an dicht gesessen, sich auch mal eine Zigarette geteilt oder man veranstaltet direkt ein Gruppenpicknick im Park. Sportgruppen treffen sich zum gemeinsamen Outdoor-Workout inklusive Partnerübungen und kuschelig nahen Hilfestellungen. Dank Homeoffice hat man jetzt auch total viel Zeit, um sich endlich mal durch all die Freund- und Bekanntschaften zu lunchen, mit denen man es sonst einfach nie auf einen Kaffee schafft. Ach, Sara ist auch langweilig? Du, bring sie doch direkt mit, dann lernt sie auch mal Fatma und deren Schwester, kennen, die gerade zu Besuch ist, sie hat auch Zwangsurlaub, witzig oder? Ist ja jetzt schließlich Frühling, wie soll man denn bei so schönem Sonnenschein überhaupt ’ne anständige Quarantäne machen. Und hey – warum nicht endlich mal zu Ikea, wenn man schon mal unter der Woche hin kann?
Diese dumme Leichtfüßigkeit und Ignoranz, mit der wir aktuell die Social Distancing-Empfehlung als geschenkte Urlaubstage verstehen wollen, lässt uns auf eine Katastrophe zusteuern.
Die Zahl der Infizierten vervielfacht sich täglich und dies sind nur die offiziellen Kennwerte, denn nicht alle Menschen, die Überträger*innen des SARS-CoV-2 Virus sind, zeigen auch Symptome. Alte Menschen sowie gesundheitlich gefährdete Personen sind damit einem dramatisch hohen Risiko ausgesetzt sich anzustecken, einen schweren Krankheitsverlauf zu erleiden oder sogar zu sterben.
Kranke Menschen werden zum Sterben heim geschickt
Wir müssen gar nicht mal so weit über unseren Tellerrand schauen, um einen Blick in die Zukunft zu werfen. Italien zeigt, wie extrem die Zustände enden können. Da sich das Virus zu rasch verbreitet hat und damit viele tausende Menschen gleichzeitig kritisch krank waren und sind, ist das Gesundheitssystem diesem Ansturm nicht gewachsen. Es gibt nicht genug Beatmungsgeräte und Equipment für die schwerkranken Fälle. Was oft nicht klar mitgesprochen wird: Das Covid-19 Virus ist nicht die einzige Krankheit, die Ressourcen, Betten und Personal erfordert – es gibt weiterhin Menschen mit anderen krankenhausbedingten Leiden, es gibt weiterhin Operationen, es gibt weiterhin Geburten und es passieren weiterhin Unfälle. All diese Menschen müssen zeitgleich versorgt werden – nur wie?
In Italien werden Corona-Patient*innen um die 80 Jahre in einigen Krankenhäusern schon gar nicht mehr aufgenommen, Beatmungsgeräte sollen Jüngeren zugeteilt werden. Menschen werden wortwörtlich nach Lebenswürdigkeit kategorisiert und zum Sterben nach Hause geschickt. Ist es das Szenario, das ausgereizt werden muss – bis es auch der*die Letzte kapiert?
Zuhause bleiben zu können ist Luxus
Es gibt derzeit Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen, Lehrer*innen und Erzieher*innen, die Notbetreuungen stemmen, Personen im öffentlichen Dienst und Nahverkehr, Lieferant*innen und Fahrer*innen, Arbeitskräfte im Einzelhandel sowie selbstständige Kleinunternehmer, die Extraschichten schieben und sich dumm und dämlich ackern, um das System, in dem wir trotz einiger Einschränkungen noch immer sehr gut leben, am Laufen zu halten. Beim Krankenhauspersonal werden Abstriche nicht mehr ganz so genau genommen, um weitere Corona-Fälle offiziell ausschließen zu können und damit einen internen Zusammenbruch zu umgehen. Freischaffende kämpfen mit ausbleibenden Jobs sowie Einkünften und gleichzeitig laufenden Kosten. Geflüchtete an den EU-Grenzen sehen sich neben den menschenunwürdigen Bedingungen in den Lagern ebenfalls mit der Corona-Pandemie und damit katastrophalen Ausmaßen konfrontiert, haben jedoch nicht die Möglichkeit mal eben entspannt versichert in ein Krankenhaus zu spazieren.
Ich kann daher nur begrenzt Mitleid für Menschen aufbringen, die sich darüber beklagen, dass es ja schon doof ist, jetzt so in seiner Freizeit eingeschränkt zu werden und überhaupt – wie soll man denn den Tag zuhause rumkriegen?
Wer Teil einer Gesellschaft ist, trägt damit automatisch Verantwortung gegenüber dem Kollektiv. Was wir jetzt tun oder eben nicht, beeinflusst wie schnell sich das Virus weiter verbreiten wird und in welcher Wucht die Folgen auf unseren Auffangapparat treffen. Jetzt kommt es darauf an, ob wir die Zahl der Infizierten auf mehrere Jahre strecken und damit sicherstellen können, dass unser Gesundheitssystem stabil aufgestellt ist. Oder wir schaffen es durch das geradezu wahnhaftes Verhalten uns ständig und überall in Herden aufzuhalten, nicht, die Verbreitung von Corona zu stoppen und verursachen damit einen Kollaps im Gesundheitswesen – wäre auch drin, so wie wir derzeit weitermachen. Laut dem Robert Koch Institut ist anzunehmen, dass es in zwei bis drei Monaten bis zu zehn Millionen Infizierte in Deutschland gibt, wenn wir es nicht schaffen, die Zahl der sozialen Kontakte sofort und massiv einzuschränken.
Let’s face the Lagerkoller!
Eine Situation wie diese, gab es in unserer modernen Gesellschaft nie zuvor. In Zeiten permanenten Austauschs und ständiger Verfügbarkeit sind wir es nicht gewohnt, sich zurückzuziehen und einfach mal die Füße still zu halten. Doch gleichzeitig war es nie zuvor so einfach, solidarisch zu sein. Es geht darum, unsere Mitmenschen und gerade die Risikogruppen zu schützen, ihnen die Chance zu ermöglichen, die optimale gesundheitliche Versorgung zu erhalten. Dafür müssen wir uns einfach nur zurückziehen und in Häuslichkeit üben. Es sollte möglich sein, dass wir diesen simplen Akt der Solidarität nicht erst durch eine offiziell angeordnete Ausgangssperre auf die Kette kriegen.
Ja, es ist anstrengend die eigenen vier Wände weitesgehend nicht zu verlassen. Ja, „Kinder und Homeoffice klappt super“, sagte kein Elternteil jemals ever. Ja, irgendwann sind alle Bücher alphabetisch und der Kleiderschrank nach Farben sortiert, sämtliche Serien und Filme gestreamt, die Wohnung blitzsauber, alle Bücher und Zeitungen gelesen, der Papierkram geordnet und man spricht Suaheli, Altgriechisch und Französisch auf B1-Level. Ja, irgendwann wird der Lagerkoller kommen und die Sehnsucht nach Freund*innen, Familie – verdammt, man vermisst sogar die eine Arbeitskollegin, der man so gerne jedesmal ins Gesicht gesprungen wäre, wenn sie „Happy Monday“ quer durchs Büro quietscht. Das ist okay und verständlich, aber da müssen wir jetzt durch! Und es gibt Schlimmeres, Millionen Covid-19 Infizierte und ein kollabierender Gesundheitssektor zum Beispiel.
Zuhausebleiben mit Stil, Spaß und Spannung
Tauscht euch über Telefon, Videochat und WhatsApp aus und bleibt vor allem mit denjenigen in Kontakt, für die soziale Isolation psychische Probleme mit sich bringt oder verstärkt. Entschleunigt, bildet euch weiter, entwickelt neue Routinen lest und lest vor, schreibt, hört Musik, singt, kocht, mistet aus, schaut Filme, langweilt euch, werdet kreativ. Redet und beschäftigt euch miteinander, spielt mit euren Kindern, probiert Home Workouts aus. Organisiert euch online und schmiedet neue Allianzen in Communities. Bietet Älteren und Kranken (mit Sicherheitsabstand und erhöhten Hygienemaßnahmen, versteht sich) in eurem nahen Umfeld Unterstützung an. Versucht Künstler*innen, Autor*innen, Musiker*innen zu unterstützen, indem ihr ihre Werke kauft und streamt. Wenn es euch finanziell möglich ist, verzichtet darauf bereits erworbene Karten von Kulturveranstaltungen zurückzugeben, um die Branche zu supporten. Kauft Lebensmittel nicht nur in großen Ketten, sondern weicht auf kleinere selbstständige Läden aus.
In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
Stellt euch die Frage, wie eine solidarische Gesellschaft auch in Zukunft aussehen sollte. Sowieso Zukunft, wichtige Sache. Wir sehen, was Corona als Krise mit sich bringt und was sie offen legt: Wie brutal sich das Netz des Kapitalismus’, der unsere Systeme und Wirtschaft durchzieht, nun zuzieht. Wie gesellschaftliche Klassenunterschiede weltweit darüber entscheiden, wer medizinische Versorgung erhält und wer nicht. Wie wichtig bedingungsloses Grundeinkommen anstatt abhängigkeitsschaffende Kredite wäre. Wie eng wir international miteinander verwoben und voneinander abhängig sind, während die Abschottungspolitik erneut wächst. Wie (verkehrs-)politische Entscheidungen, die schon lange von Klimaschützer*innen gefordert werden und die zugunsten der Wirtschaft aufgeschoben wurden, plötzlich schnell und ohne Herumgeeiere durchgesetzt werden. Welch niedrigen Stellenwert wichtige Reproduktions- und Pflegearbeit im Vergleich zu Wirtschaftsunternehmen haben.
Für uns eröffnet sich die Chance darüber zu reflektieren, in welchem System, in welcher Gesellschaft wir zukünftig leben wollen, wo die Problematiken des Status Quo liegen und wie nachhaltig unsere Solidarität wirklich ist.
Man kann sich aber natürlich auch weiterhin fragen, ob einem beim nächsten Schiss besser mit drei- oder vierlagigem Klopapier geholfen ist und mit wie viele Rollen man dafür wirklich braucht. Ist ja (noch) ’n freies Land, ne?!
Madeleina
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