Musik, die Raum schafft
Fotocredit: Cheril Sanchez
Im Gespräch mit Sängerin Annahstasia Enuke
Wenn es nach ihren Eltern gegangen wäre, dann wäre Annahstasia Enuke heute Ärztin oder Anwältin. Ein Glück, dass die nigerianisch-amerikanische Sängerin andere Pläne hatte. Im April erschien ihre neue EP „Revival“. Unsere Autorin Neneh hat sich mit Annahstasia in Berlin getroffen. Im Gespräch verrät die Sängerin, wie der Entstehungsprozess hinter ihren Songs aussieht, wie sie Menschen empowern möchte und warum „Revival“ für sie auch eine persönliche Wiedergeburt bedeutet.
Annahstasia, auf deinem Instagram-Feed ist zu sehen, dass Musik nicht dein einziges künstlerisches Ausdrucksmittel ist. Mode und Visual Arts sind auch Leidenschaften von dir. Welche Bedeutung haben die verschiedenen Kunstformen für dich und deine Musik?
Annahstasia: Musik kann manchmal sehr verkopft und abstrakt sein. Manchmal ist sie als Medium nicht greifbar und man kann sie nicht in die Hände nehmen. Deshalb hilft es mir, etwas Praktisches mit meinen Händen zu machen, wenn ich mich musikalisch nicht inspiriert fühle. Ich liebe Keramik, Paper Making (Papiermachen) und Grafikdruck, Malerei, Fotografie und die Entwicklung von Filmen. All das sind Teile meines körperlichen und künstlerischen Ausdrucks. Sie helfen mir, meiner Kreativität freien Lauf zu lassen und den Kanal offen zu halten, damit ich meine beste Musik machen kann. Und ich sehe sie alle als einen Teil der Welt von Annahstasia, als meine persönliche Welt, die ich besuche. Wenn ich also Musik mache, schreibe ich so, als wäre ich auf diesem Planeten und denke über diese Gesellschaft, diese Regeln und diese Moral und die Fantasie dieses Ortes nach. Und es ist nicht sehr fantasievoll, aber es ist einfach ein Ort der alten Welt, an dem man sich auf den Geist und die Intuition und die Verwurzelung der Vorfahren verlässt. .
Deine Musikvideos wirken sehr ausdrucksstark und haben einen künstlerisch-ästhetischen Anspruch, gehört das für dich auch in diese Welt?
Annahstasia: Ja, bei meinem Video zum Song „Power“ habe ich zum Beispiel eine Porträtserie mit einer Freundin von mir gedreht. Dafür habe ich ihr diese langen Zöpfe geflochten und sie an die Fotoausrüstung gehängt und diese großformatigen Fotos gemacht. Das war nur ein Test-Shooting. Als der Regisseur und ich dann über das „Power“-Video sprachen, versuchten wir darüber zu reden, wie wir Kräfte vermitteln könnten, die dich herausziehen und wie Menschen an dich und deine Macht gebunden sind. Kurz zuvor hatte ich außerdem ein Shooting mit einem anderen Model mit diesem Konzept gemacht. Ich dachte: Wie wäre es, wenn wir das ausweiten und mein Haar an all diese Balken binden und dann Leute damit hantieren würden, um die Idee zu vermitteln, dass deine Macht genommen oder kontrolliert wird. Das ist also ein Beispiel dafür, wie meine visuelle Arbeit, meine Arbeit in der bildenden Kunst, direkt das Bild für einen meiner Songs beeinflusst hat.
In einem Interview sagtest du, dass deine neue EP ‚Revival‘ die Arbeit und Entwicklung von über zehn Jahren des Musikmachens ist. Was genau hat sich in dieser Zeit für dich entwickelt und was hat sich für dich verändert?
Annahstasia: Ich selbst habe mich verändert. Als ich anfing, Musik zu machen, war ich sehr unbedarft und naiv. Dies wurde mir durch schlechte Verträge und Geschäftsleute genommen, die sich nicht für mich oder mein Wohlergehen interessierten. Oder durch Menschen, die mir sagten, ich müsse bestimmte Arten von Musik machen. Ich musste erwachsen genug werden, um ein Machtwort zu sprechen und zu sagen: „Nein, das ist es, was ich bin.“ Bei der Entwicklung ging es also darum, zu mir selbst zurückzukehren, aber auch darum, im Leben genug Erfahrung mit anderen Arten des Seins zu sammeln. Um zu wissen, dass ich nicht diese anderen Dinge sein wollte. Sondern dass ich der Mensch sein wollte, der ich ursprünglich war. Der Weg dorthin war ein ziemlicher Umweg, aber er war notwendig, denn jetzt bin ich an einem Ort, an dem ich mich wiedergeboren fühle und sehr gefestigt bin. Das ist es, was ich bin. Das ist es, was ich der Welt zu geben habe.
‚Revival‘ ist deine zweite EP nach ‚Sacred Bull‘ aus dem Jahr 2019. Inwiefern unterscheidet sich die neue EP von deiner letzten? Und was fühlt sich anders an?
Annahstasia: ‚Revival’ fühlt sich ganz anders an. ‚Sacred Bull‘ war für mich ein Gemeinschaftsprojekt mit dem Produzenten Jay Cooper. Und es war stark von seinem Produktionsstil beeinflusst. Natürlich habe ich die Songs geschrieben, aber ich sah es eher als eine Zusammenarbeit und weniger als meine eigene Musik an. Als wir anfingen zusammen zu arbeiten und ich wollte, dass es sich weiterentwickelt, da konnte er nicht mitgehen. Wir haben es versucht, aber letztendlich war seine künstlerische Stimme zu laut und zu stark. Damit wir beide musikalisch koexistieren konnten, trennten sich unsere Wege, und ich machte mich allein auf den Weg, um zu versuchen, meinen Sound zu finden. ‚Revival‘ ist das erste Projekt, das ich als Executive Producer produziert habe, bei dem ich alle Gitarrenparts und alle Texte geschrieben habe, und bei dem ich die Band leitete. Das hat einen Sound geschaffen, über den ich die Kontrolle habe und die Energie viel besser steuern kann als bei „Sacred Bull“. Ich habe das Gefühl, dass ‚Sacred Bull‘ eher der Babygedanke dieses Projekts war. Ich habe immer noch dieselben Dinge in Frage gestellt und über dieselben Dinge gesprochen. Aber ‚Revival‘ ist wie das Ende des Satzes, im Gegensatz zur anderen EP, die der Gedanke war, bevor man überhaupt spricht.
Könnte man also sagen, dass ‚Revival‘ den Titel hat, weil du dich, wie du sagtest, „wiedergeboren“ fühlst oder gibt es andere Gründe?
Annahstasia: Eigentlich sind es drei Gründe. Es ist selbstbetitelt, weil mein Name auf Griechisch ‚Resurrection‘ bedeutet. Und der Grund, warum es nicht ‚Resurrection‘ heißt, ist, dass wir in den Revival Studios in L.A. aufgenommen haben. Das war reiner Zufall, ich habe dieses Studio nicht ausgesucht. Es war das Studio eines Freundes. Es fühlte sich richtig an. Ich fühlte mich wiedergeboren. Ich fühlte mich verjüngt, weil ich dieses Projekt ins Leben rief und die Kontrolle über meine eigene Stimme und über meine Bandmitglieder hatte. Aber auch, dass ich in einem Raum war, in dem die Leute mir zuhörten und meine Anweisungen wahrnahmen. So nach dem Motto: „Oh, sie hat das Sagen und das sind ihre Ideen.“ Und das war wirklich heilsam, denn diesen Raum hatte ich vorher nicht.
Wenn du komponierst und neue Songs entwickelst, schreibst du deine Lyrics nicht auf. Wie sieht dein Prozess aus und wie fühlt sich diese Art von Kreieren für dich an?
Annahstasia: Ich schreibe einen Großteil meiner Texte mit Gitarre. Ich denke, dass es den Prozess unterbricht, wenn ich aufhöre und es aufschreibe oder mein Telefon nehme und aufschreibe, was ich gerade sage. Ich tue also mein Bestes, um entweder aufzunehmen, was ich singe, oder mich einfach daran zu erinnern. Und ich glaube, es ist gut, wenn man versucht, es sich zu merken. Denn wenn es einem etwas bedeutet, bleibt es im Gedächtnis haften. Also benutze ich diese Regel als eine Art Maßstab dafür, was ein guter Song ist und was ein schlechter Song ist. Wenn er nicht in meinem Kopf bleibt, war er nicht für mich bestimmt, um ihn an jemand anderen zu geben. Aber was in meinem Kopf bleibt, gehört mir. Und ich glaube nicht daran, den Text aufzuschreiben, bevor er abgemischt, gemastert und fertiggestellt ist. Denn bis zu diesem Zeitpunkt kann der Song noch wachsen und sich verändern und wandeln. Und selbst wenn ich meine Songs aufführe, ändere ich oft den Text, je nachdem, was sich besser singen lässt oder ob ein bestimmter Klang leichter zu projizieren ist. Ich sehe meine Songs als sehr beweglich. Ich denke nicht, dass ich mich jedes Mal an jeden einzelnen Text halten muss.
‚Midas’ ist auch auf deiner neuen EP zu finden. Was ist die Geschichte hinter dem Song?
Ich erinnere mich, dass ich während der Pandemie zu Hause war und mir ein Instagram-Live-Video ansah, in dem zu sehen war, wie trans Frauen auf der Straße in Hollywood von diesen schrecklichen Leuten belästigt und angepöbelt wurden. Viele dieser Frauen gingen ihren Geschäften nach, und diese Typen beschlossen, vorbeizukommen und eine von ihnen zu verprügeln und die anderen zu belästigen. Und ich saß zu Hause in meinem Bett und sah mir das an. Ich meine, das ist so traurig. Und dann dachte ich, es war gut, dass sie es aufgenommen haben, damit sie Beweise haben, die sie gegen diese Leute vor Gericht vorbringen können. Es ist aber auch einfach ein Zeichen unserer Zeit, dass ich zu Hause sitze und mir das auf meinem Bildschirm ansehe, und dass so etwas sogar noch an einem so liberalen Ort wie Los Angeles passiert. Dort bin ich gewesen. Ich saß da in diesem Moment mit meiner Gitarre und mir kam der Text in den Sinn: ‚If I had a dollar for each time someone stepped on my back to get to the other side. I’d be like I’d be Midas’ (dt. „Wenn ich einen Dollar für jedes Mal bekäme, wenn jemand über meinen Rücken läuft, um auf die andere Seite zu gelangen. Ich wäre wie Midas“) und Midas ist die Figur aus der Bibel, die alles, was sie berührte, in Gold verwandelte. In dem Song geht es darum, wie viel Macht wir hätten, wenn wir Unterdrückung direkt in Reichtum verwandeln könnten.
Gibt es auch andere Entstehungsprozesse von Songs auf dieser EP?
Annahstasia: Den Song „Power“ habe ich zum Beispiel mit 18 Jahren geschrieben und dann fast acht Jahre lang nicht mehr angefasst. Für dieses Projekt bin ich dann darauf zurückgekommen, weil ich den Song schrieb, bevor ich ihn verstand. Der Text kam zu mir von wer-weiß-woher, und ich dachte: „Okay, das ist ein Song, den ich geschrieben habe. Aber ich war zu jung, um zu wissen, wovon ich singe.“ Es war irgendwie seltsam. Und manchmal passiert das, dass man einfach Texte bekommt, die einem einfallen und Prophezeiungen sind. Und jetzt singe ich sie, nachdem ich durch dieses Leben gegangen bin, das mich in jede Richtung geschlagen hat. Und ich denke: „Jetzt ergibt der Text Sinn für mich.“ Und so war ich in der Lage, den Song von dem Punkt aus zu singen, an dem ich verstand, was ich damit meinte. Die Inspiration kam gewissermaßen später. Der Text kam zuerst und dann die Inspiration, ihn zu singen und aufzunehmen.
Würdest du sagen, dass deine Musik auch andere Menschen empowern will?
Annahstasia: Ja, es ist ein Aufruf zur Selbstbestimmung, ganz sicher. Ich möchte den Leuten das Gefühl geben, dass sie es können. Ich möchte, dass die Leute das Gefühl haben, dass eine Last von ihnen genommen wurde, nachdem sie meine Musik gehört haben, so dass sie einen anderen Lebensstil annehmen können. Vielleicht das, wofür sie gerne mehr Energie hätten. Wovon sie wünschten, sie hätten die Zeit, um sie anzugehen. Wenn meine Musik ein bisschen Raum in dir freimachen kann, damit du dich inspirieren lassen kannst oder damit du dich ruhig oder geheilt fühlst. Damit du zum Beispiel deinem Freund die Hand reichen kannst, der gerade etwas zusätzliche Unterstützung braucht, oder damit du einfach ein bisschen mehr Raum hast, um in unserem chaotischen Leben zu sagen: „Okay, das ist das, was ich schon immer tun wollte. Ich möchte die Energie haben, es jetzt zu tun.“ Ich glaube, das ist die Kraft und auch die Inspiration, keine Angst zu haben, auf eigenen Füßen zu stehen und zu schauen, was Gott einem gegeben hat. Das ist es, was dieses Projekt für mich war. Ich musste mich meinem eigenen Mut stellen, meiner eigenen Überzeugung: Gott hat mir diese Stimme gegeben und Gott hat mir diese beiden Hände gegeben. Was kann ich mit ihnen tun? Und ich habe darauf vertraut, dass ich damit etwas Gewaltiges tun kann. Vorher habe ich mich hinter all den Produktionen und dem Hall und den Bands versteckt. Die Pandemie hat mir das genommen. Und ich musste mich einfach selbst testen. Was kann ich allein geben?
Ich habe dich vor einiger Zeit performen sehen und hatte das Gefühl, dass alle anfingen völlig ruhig zu werden und einfach nur zuzuhören, komplett im Moment zu sein. Das war wirklich schön zu sehen. Im Hinblick auf das, was du Hörer*innen geben willst: Wie ist es für dich live zu performen?
Annahstasia: Es war schockierend für die deutschen Radioleute, dass ich keine Setlist habe. Ich plane nicht, welche Songs ich spielen werde. Ich habe alle Songs in meinem Kopf, aber ich warte, bis ich im Raum bin, um zu wissen, welcher Song zu der Energie passt, die ich fühle. Gestern Abend musste ich die ersten beiden Songs aus Promotionsgründen spielen. Aber die anderen Songs, da hätte ich alles spielen können. Ich saß da und beobachtete das Publikum und spürte den Raum, der mir erlaubte zu wissen, was ich spielen würde. Denn ich sehe mich auch als Heilerin. Ich tue mein Bestes, um die Energie des Raumes zu lesen und zu wissen, welche Art von Heilung die Menschen brauchen, damit ich sie geben kann. Ich gehe nicht dorthin, damit sie sagen: „Wow, du mit deiner Stimmgymnastik“, und ich versuche nicht, musikalisch das Beeindruckendste zu machen. Ich versuche nur, dir zu geben, was du brauchst. Das ist meine Aufgabe als Künstlerin.
Neneh
Neneh ist Musikerin und freie Journalistin. Sie studiert im Master Musikwissenschaften in Berlin und machte unter anderem Beiträge für SWR2, taz, missy Magazine und t-online.
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