Rastavati, wie ich meine jamaikanischen Wurzeln fand
Fotocredit: Laura Thomas
Drei Generationen, drei Frauen, ein großer Unbekannter. Sommer 1963: Helga ist schwanger und weiß nicht, wer der Vater ist. Zur Welt kommt ein Mädchen mit dunkler Haut und krausem Haar und Helga grübelt: War es Oin, der Jamaikaner oder Ralf, der Indonesier?
Helga macht Schluss mit dem wilden Leben, und die kleine Jutta wächst behütet auf. Sie erfährt, dass ihr Erzeuger ein karibischer Saxofonist ist, macht sich aber erst Jahrzehnte später auf die Suche. Über Umwege und mit Hilfe ihrer eigenen Tochter, kann sie den unbekannten Vater endlich ausfindig machen- eine turbulente Spurensuche beginnt…
Rastavati ist ein autobiographischer Roman, er ist meine sehr persönliche Geschichte und besteht aus zwei Teilen: der erste Teil beschäftigt sich mit meinem Aufwachsen als einziges Schwarzes Kind meiner Umgebung, im Meerbusch der sechziger Jahre. Mit weißer Mutter, weißem Stiefvater und weißem Bruder wachse ich recht behütet auf. Jedoch ist meine Hautfarbe nur draußen in der Schule und auf der Straße und nicht bei uns zuhause überhaupt Thema. Meine Mutter und ich lachen allenfalls über die Verkäuferin im Kaufhof, die mich mit weit aufgerissenen Augen anspricht: „Du nix mehr als drei Teile mit in Kabine nehmen.“
Durch meine ausschließlich weiße Umgebung, habe ich keinerlei Möglichkeiten, mich mit Schwarzsein zu identifizieren. Weniger noch: Ich habe nicht den geringsten Hauch einer Ahnung, was außer meiner dunkleren Haut mich von den anderen unterscheiden sollte. Aus meinen Augen, vor meinen Augen sind alle weiß und ich betrachte mich als ein natürlicher Teil meiner Umgebung. Ich habe viele Freund*innen, werde aber mit zunehmendem Alter mehr und mehr damit konfrontiert, dass ich für andere, die auf mich, als den dunklen Punkt unter lauter weißen schauen, durchaus als anders wahrgenommen werde. Das N- Wort ist zu dieser Zeit eine gängige Bezeichnung, „sie ist ein Mischling“, erklärte eine Frau in der Bahn ihrer Tochter auf die Frage hin, warum ich so anders aussähe.
Mit der Pubertät wird es heikel. Die Eltern meiner Freund*innen haben ernsthafte Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass sich ihre Söhne gerade dieses einzige Schwarze Mädchen aussuchen. „Es gibt doch so viele nette weiße Mädchen. Warum muss es denn gerade Jutta sein“, fragt sich zum Beispiel die Mutter meines ersten Freundes.
Meine Mutter würde am Liebsten jeden, der etwas gegen meine Hautfarbe sagt, in der Luft zerrissen, gleichzeitig gibt es, obwohl wir sehr viel miteinander reden, uns sehr nah sind, kein Gespräch über mein Schwarzsein, darüber, dass es „draußen“ Thema ist. Es soll einfach kein Thema sein, weder für uns noch für irgendjemanden da draußen- ist es aber- ein Thema, zu dem ich keine Worte und nur sehr unbestimmte, verschwommene Gefühle habe.
Der zweite Buchteil handelt von der Suche nach meinem leiblichen Vater, einem Jamaikaner, den auch meine Mutter nur flüchtig kannte und von dem sie nicht mehr behalten hatte, als dass er „Oin“ hieß und Saxophon spielte.
Ich habe vier Kinder. Kinder wollen oft die Lücken füllen, die sich in Familiengeschichten auftun oder auch Familiengeheimnisse lüften. Sie spüren das Unbearbeitete und wollen Klärung, auch für ihre eigene, freiere Entwicklung.
So ist es auch bei uns: meine Kinder leben nahezu von klein auf jamaikanische Kultur: Sie lieben Reggae, dekorieren ihre Zimmer mit Bob Marley Postern und jamaikanischen Flaggen, lernen sogar etwas Patois, die jamaikanische Kreolsprache und sind, sobald es ihr Alter zulässt, jährlich für 4 Tage auf dem Summerjamfestival in Köln, dem größten Reggaefestival weit und breit. Vor allem sind sie sehr daran interessiert, dass wir ihren jamaikanischen Großvater finden.
Meine Kinder haben mir dazu verholfen, mich mit dem Thema Schwarzsein deutlich intensiver auseinanderzusetzen. Sie haben all die Fragen gestellt, die ich mir selbst nur für mich gestellt hatte und die in meiner Kindheit keinen Raum hatten. Sie regten Gespräche bezogen auf meinen Vater an, die ich bei Freund*innen direkt im Keim erstickt hatte. Wenn mich jemand bedauerte, weil ich meinen Vater nicht kannte, hatte ich seine Bedeutung für mich kategorisch abgelehnt. Wie kann man vermissen, was man nicht kennt? Überhaupt wollte ich am allerwenigsten bedauert, auch nur in irgendeiner Weise als Opfer gesehen werden. Wenn ich damals auf Schwarze Menschen traf, suchte ich in ihnen fasziniert, aber aus der Distanz das andere, das, was sie von den Weißen unterschied, zu ängstlich, wirklich nah mit ihnen in Kontakt zu treten, weil ich mich ahnungslos und unwissend fand, wie eine Hochstaplerin, mit schwarzer Hülle und rein weißem Umfeld, weißer Sozialisation.
Ja, wir fanden meinen Vater, und es ist wundervoll, und ich vermisse jetzt, ihn nicht schon vorher gekannt zu haben. Fast das Tollste: ich fühle mich selbstverständlich als Teil dieser Schwarzen Familie. Sie lesen dieselben Bücher, lieben dieselben Filme und Konzerte, lachen über dieselben Witze…
Ich selber hatte gedacht, dass Schwarze und weiße Menschen mehr als nur ihre Hautfarbe unterscheidet. Ich dachte, dass es Unterschiede gäbe, die mich zur Außenseiterin unter ihnen machen würden. So, wie ich hier durch mein Aussehen hervorsteche, wäre es unter Schwarzen durch mein Nicht-Wissen bzw. meinem Wissen, dass sich nur aus Büchern speiste.
Meine jamaikanische Familie lebt in Kanada. Meine Halbgeschwister waren auf ihren Schulen die einzigen Schwarzen. Uns verbindet so viel mehr als uns unterscheidet. Inzwischen bin ich selbstverständlicher Schwarz und selbstverständlicher weiß. Ich bin beides sehr gerne. Ich liebe Jamaika und ich liebe den Niederrhein.
Nach Erscheinen meines Buches gab es viele Einladungen zu Lesungen- um die 30. Fast alle waren sehr gut besucht- auch von Schwarzen, aber vor allem von Weißen. Was mir in den anschließenden Diskussionen aufgefallen ist: Es gibt eine große Verunsicherung: Welche Worte sind richtig? Wie würden Sie gerne bezeichnet werden? Darf man nach der Herkunft fragen, über Haare reden? Über Jahre gab es zu wenig Informationen, zu wenig Interesse, haben wir das Thema Schwarzsein in Deutschland nicht breit genug diskutiert. Das ist jetzt anders. Wir melden uns lauter und intensiver zu Wort.
Ich habe das Buch „Rastavati“ auch geschrieben, um auf meine Jahre ohne meinen Vater mit dem heutigen Wissen um ihn, mit der Möglichkeit der Identifikation zu blicken. Es gibt diese Tür nicht mehr, die meist fest verschlossen blieb und hinter der das Mysterium um meinen unbekannten Vater wohnte.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn finden, dass ich mich noch mit 50 so grundlegend anders, freier, runder, mit meinem Schwarz- und Weiß- Sein fühlen würde, war verschwindend gering. Dennoch ist genau diese Situation eingetreten.
Welchen Schluss ich daraus ziehe: wir können viel, sehr viel erreichen für jedes einzelne Schwarze Leben und für uns alle im Kollektiv- auch, wenn die Wahrscheinlichkeit uns erstmal als gering erscheint.
Einen Auszug aus Juttas Rastavati stellen wir euch hier vor.
Schwarz für sich und Weiss für sich
Von Hans’ Wutanfällen geprägt, hatte ich mir im Alter von zwölf Jahren geschworen, dass ich zwar Kinder, aber niemals einen Ehemann haben wollte. Auch meine Mutter unterstützte diesen Vorsatz voll und ganz. «Heirate niemals», impfte sie mir ein, während sie Hans’ Socken bügelte oder Zwiebeln schnitt. «Mach dich nie von einem Mann abhängig. Das bringt nur Ärger!»
Trotz aller Vorwarnungen und Unkenrufe war ich mit sechzehn wie vom Donner gerührt, als ich in meiner ersten Mathestunde nach den Sommerferien in die tiefbraunen, man-
delförmigen Augen von Sebastian sah. Sebastian hatte von der Realschule aufs Gymnasium gewechselt. Von diesem Tag an versuchte ich, im selben Moment wie er den Klassenraum zu verlassen oder zeitgleich zum Fahrradständer zu gehen, und wenn er eine Stunde blaumachte, tat ich es auch. In Mathe hatte er großen Nachholbedarf. Das war meine Chance. Ich sagte, ich könne ihm Nachhilfe geben, und er willigte ein. Sebastian wohnte allein mit seiner Mutter in einem schicken Einfamilienhaus mit weißen Säulen vor der Haustür und einer akkurat gestutzten Buchenhecke. Als ich dort zum ersten Mal mit klopfendem Herzen klingelte, stand seine Mutter in der Tür. Frau Dr. Bülow, Zahnärztin, in weißer Bluse und mit Perlenkette, lächelte mich an. «Du musst die Jutta sein. Toll, dass du dem Sebastian hilfst. Der Junge braucht dringend etwas Ansporn. Ohne deine Hilfe wäre er aufgeschmissen.»
Nach den Mathe-Hausaufgaben saßen wir meist noch eine Weile Kekse knabbernd in seinem Zimmer, wobei er mich manchmal so lange ansah, dass mir fast schwindelig wurde. Und als wir eines Nachmittags mit den Hausaufgaben früh fertig waren, entschieden wir, um der Aufbesserung unserer Englischkenntnisse willen noch eine Schallplatte mit amerikanischen Balladen zu hören. Immer tiefer sahen wir uns dabei in die Augen, bis wir die Lider irgendwann schlossen. Wir lagen schließlich selig knutschend auf dem Sofa, als plötzlich ein gellender Schrei ertönte. «Jesus, Maria und Josef!» In der Tür stand Frau Bülow. Sie war in eine Art Schockstarre verfallen und rührte sich nicht vom Fleck. «Sebastian! Ich erwarte dich in der Küche!», presste sie noch hervor, bevor sie die Tür wieder zuschlug. Ich war zu glücklich und zu benommen, um mir wirklich Sorgen zu machen. Wahrscheinlich fiel es ihr einfach schwer, ihren Sohn mit einem Mädchen zu teilen, wo ihr Mann sie vor Jahren verlassen hatte, dachte ich mir. «Meine Mutter kann warten», murmelte Sebastian, schloss die Zimmertür ab und legte sich wieder neben mich. Irgendwann ging er dann doch in die Küche. Ich legte eine neue Schallplatte auf und versuchte, glücklich und überwältigt, wie ich war, entspannt zu bleiben. Doch lauter als Simon & Garfunkels «Bridge over Troubled Water» hörte ich Frau Bülows keifende Stimme und schnappte Halbsätze auf wie: «Nicht in meinem Haus! … Legt sich einfach auf dein Sofa! … Deine alte Freundin war doch so ein nettes Mädchen!»
Was ich dann hörte, riss mich endgültig aus meiner romantischen Verträumtheit und traf mich bis ins Mark: «Ja, muss es denn eine Dunkelhäutige sein? Es gibt doch so viele nette weiße Mädchen. Schwarz für sich und Weiß für sich!»
«When tears are in your eyes, I will dry them all …», sang Paul Simon. Tränen schossen mir in die Augen, während ich mir ein Kissen vors Gesicht hielt, um nicht laut loszuschluchzen. Diese jähe, knallharte Ablehnung hatte ich nicht erwartet. Vor jeder Nachhilfestunde hatte Frau Bülow mich freundlich begrüßt, aber jetzt, wo es um mehr, wo es vielleicht sogar um Liebe, um eine Beziehung ging, war Schluss mit Gemütlichkeit. Jetzt rückte ich mit meiner Brauntönung zu nah an das weiße Genmaterial ihres Sohnes heran. Wie konnte das sein? Frau Bülow sah doch eigentlich ganz normal aus, gar nicht so,als hätte sie solche komplett verqueren Ansichten. Schwarz für sich und Weiß für sich. Selbst wenn ich gewollt hätte, dachte ich, konnte ich mich ja gar nicht für «Schwarz» oder «Weiß» entscheiden. Ich war braun – zur Hälfte weiß, zur
Hälfte schwarz, wo könnte ich mich «unter meinesgleichen» denn überhaupt bewegen? Gab es neben dem türkischen und griechischen Kulturverein, dem Club der Langen und den Single-, Schwulen-, Lesbentreffs denn irgendwo auch Zusammenkünfte von Mulatten, Mischlingen, zwecks geselligen Beisammenseins unter ihresgleichen? Und selbst wenn ich ganz schwarz gewesen wäre, wie sollte «Schwarze für sich» im
urdeutschen Meerbusch überhaupt funktionieren? Da wäre ich ziemlich alleine gewesen. Alle Menschen um mich herum waren weiß. Ich hatte keinen schwarzen Lehrer, keine schwarze Ärztin, ja, ich war die einzige dunkelhäutige Schülerin des ganzen Gymnasiums. Mir dämmerte, dass das Erwachsenwerden, mit der Nähe zu Jungs und deren Familien sowie dem immer größeren Radius, in dem ich mich bewegte, eine viel stärkere Auseinandersetzung mit meiner Hautfarbe von mir verlangte als zuvor.
Schon länger hatte ich bemerkt, dass mir häufiger seltsame Kommentare entgegengebracht wurden, wenn ich mich nicht in meinem bekannten Umfeld aufhielt, mich allein ein Stück durch die Welt bewegte. Erst letzte Woche, als ich in Düsseldorf im Warenhaus «Horten» mit einem Berg Klamotten beladen die Damenumkleide hatte betreten wollen, sprach mich die blond gelockte Verkäuferin so laut und jede Silbe betonend an, dass sich die Leute noch in der Herrenabteilung umdrehten: «Du – nix – mehr – als – drei – Teile – mit – in – Kabine – nehmen!» Dabei hielt sie drei ausgestreckte Finger direkt vor mein Gesicht. Mein erster Impuls war gewesen, mich um-
zudrehen, um zu sehen, wen die Frau meinte.
Ich fand solche Situationen witzig, liebte es, stets in bestem Hochdeutsch zu antworten. Aber niemals hatten diese Fragen oder Kommentare etwas mit mir persönlich zu tun gehabt, nie waren sie mir auch nur annähernd so nahegegangen wie jetzt bei Sebastians Mutter. Wie um Gleiches mit Gleichem zu vergelten, verhielt sich übrigens Hans, obwohl er von meiner Erfahrung mit Frau Bülow nichts wusste, ablehnend gegenüber Sebastian.
«Man sieht jemandem in die Augen, wenn man guten Tag sagt!», blaffte er den Jungen meines Herzens an, wenn dieser mit geklauten Maiglöckchen in der Hand vor unserer
Wohnungstür stand. «Gib mir mal richtig die Hand. Nicht so labberig», oder auch: «Wer zu meiner Tochter will, kann sich vorher die Schuhe putzen!» Trotz der Schwierigkeiten mit seiner Mutter und Hans blieben Sebastian und ich für einige Jahre ein Paar, da konnte Frau Bülow noch so viel zetern, ihren Sohn anflehen oder den Herrn im Himmel persönlich. Geheiratet hat Sebastian übrigens, sehr viel später, eine Griechin mit marokkanischer Mutter. Pech gehabt, Frau Dr. Bülow.
Aus Rastavati – Wie ich meine jamaikanischen Wurzeln fand, rororo Verlag, 24.03.2017, 256 Seiten, ISBN: 978-3-499-63190-0
Jutta
Jutta Weber wurde 1964 am Niederrhein geboren. Nach dem Abitur studierte sie in Göttingen und Düsseldorf Humanmedizin und absolvierte danach ihre Doktorarbeit, eine Fachärztinnenausbildung zu Kinder- und Jugendärztin und eine Ausbildung zur Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche. Jutta Weber lebt mit ihrer Familie in Krefeld und arbeitet dort in eigener Praxis.
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