Umzingelt von Käsekuchen
Bild: Unsplash
Eine Reflexion über erste Rassismuserfahrungen im Kindheitsalter
Eines Tages holte mich mein Großvater vom neuen Kindergarten ab. Ich war betrübt. Er fragte warum. Ich erklärte: Alle hätten mich „Schokokuchen“ genannt und niemand hätte mit mir gespielt. Er sagte nichts, schien selbst überfordert und nachdenklich. Später sagte er zu mir: „Wenn sie dich wieder „Schokokuchen“ nennen, sag ihnen, sie sind „Käsekuchen“ und dass „Schokokuchen“ besser schmeckt als Käsekuchen.“ Ich verstand eh nicht, was hier los war, aber als ein sehr liebes Kind, dass es immer allen recht machen wollte, folgte ich seinen Anweisungen. Noch ahnte ich nicht, dass dies nur ein winziges Symptom einer enormen gesellschaftlichen Epidemie war, die ich noch mein Leben lang bekämpfen würde. Rassismus. Aber das verriet mir erstmal niemand.
Vom Schokokuchen zum N-Wort
Am nächsten Tag kam es zu gegenseitigen Bezeichnungen von „Schokokuchen“ und „Käsekuchen“, mit mir gespielt hat trotzdem keine*r. Verstanden, was eigentlich los war habe ich auch nicht. Die Kindergärtnerinnen interessierte es ebenso wenig. Ein paar Tage später kamen die Käsekuchenkinder, umzingelten mich und bezeichneten mich nicht mehr als „Schokokuchen“, sondern mit dem N-Wort. Das verstand ich schon gar nicht, hatte ich auch noch nie gehört.
Bild: Klein Tessa
Alle sehen unterschiedlich aus – oder ?!?!
Ich erzählte es meinem Großvater, als er mich abholte, er sagte gar nichts mehr. Zu Hause fragte ich auch meine Großmutter, was das hieße und wie ich darauf antworten solle? Ich sollte es weder sagen, noch darauf antworten, es sei ein böses Wort. Warum, sagte mir niemand. Und warum die Kindergärtnerinnen nichts gegen das böse Wort machten – wenn Kinder doch wegen anderen bösen Worten bestraft wurden – fragte auch niemand. Aber ich sollte es auf keinen Fall sagen. Wie immer, war ich bemüht es allen recht zu machen.
Später erklärte mir meine Großmutter, dass ich anscheinend „anders” aussah, da mein Vater „aus Afrika“ stammte. Den kannte ich nicht. Dass der „aus Afrika“ war, wusste ich. Was das hieß oder warum ich deswegen „anders” aussah, verstand ich überhaupt nicht.
Und überhaupt, „anders“ als was? Alle sehen doch unterschiedlich aus, sonst könnte man sie ja gar nicht auseinanderhalten!
Und was hatte das alles jetzt mit Schokokuchen oder diesem N-Wort zu tun? Und warum hatte mir das noch nie jemand gesagt, wenn es anscheinend so wichtig war, dass niemand mehr mit mir spielen wollte?
Antwortsuche im Farbkasten
Nun, es stellte sich heraus, es gab „Weiße Menschen“ und „Schwarze Menschen“ und „Halb-Weiß-Halb-Schwarz-Menschen“. Ich war angeblich letzteres. (Die Tatsache, dass es auch noch viele andere Menschen gab, wurde mir hier erstmal vollkommen verschwiegen.) Ich nahm meinen Farbkasten und mischte die weiße und schwarze Farbe aus den Tuben und erhielt – grau. War ich also grau? Aber Schokokuchen sind doch nicht grau?
Nein, auch falsch. Es stellte sich heraus, Weiße Menschen waren nicht weiß, sondern „hautfarben“. Ich ließ mir „hautfarben“ im Farbkasten zeigen, es war eine Art helles rosa. Schwarze Menschen waren auch nicht schwarz, sondern dunkelbraun. Ich war anscheinend hellbraun.
Ich merkte an, dass also dunkelbraun und hellbraun auch „hautfarben“ sei, dies war anscheinend falsch.
Dann war es doch… eigentlich… irgendwie… schon richtig.
Bild: Klein Tessa
Es gibt keine Antworten, nur Fragen
Erwachsene, die sonst immer alles wussten, waren sehr verwirrt von meinen Aussagen. Ich schien andauernd Fragen und Erkenntnisse zu haben, die selbst für sie neu zu sein schienen. Sie hatten keine Antworten. Sie hatten kein Wissen hierüber. Sie fanden mich folglich seltsam und anstrengend.
Das graue Kind, dass es immer allen recht machen wollte, hatte eigentlich eh nie eine Chance, es irgendjemanden auch nur annähernd recht zu machen.
Ich merkte, wenn es um mich ging, gab es anscheinend keine Antworten, sondern immer nur Fragen. Auch wenn ich erst viel später die Zusammenhänge verstand, vom Leben als Afrodeutsche Person in einer Weißen Mehrheitsgesellschaft, begriff ich instinktiv schon mit fünf Jahren, dass ich meine Existenz in dieser, selbst definieren und erkämpfen musste.
Klein und allein gegen systematischen Rassismus!?!
In einer Welt in der ich schutzlos angegriffen wurde, war der erste Instinkt meines Großvaters, dass ich mich eben selbst verteidigen solle. Das macht erstmal Sinn.
Doch hatte ich eigentlich keine Chance mich zur Wehr zu setzen, gegen eine Welt mit Kindern, die – als Symptom einer systematisch rassistischen Gesellschaft – schon, ohne es selbst wirklich zu verstehen, gegen mich verschworen waren. Nachdem es daher schnell zum N-Wort eskalierte (und dann noch weiter), war auch klar, die Verteidigung mit den scheinbar “gleichen” Mitteln bringt nichts und klappt auch nicht.
Ein einzelnes Kindergartenkind konnte absolut nichts tun, um systematischen Rassismus zu enthebeln oder sich gegen diese zu schützen, wenn jene mit der Macht über diesen Ort es nicht taten. Und das wusste mein Großvater in seiner stillen Resignation; das wusste er sicherlich von Anfang an, aber wollte mir zumindest etwas geben, um es zu versuchen.
Dennoch vermittelte er mir so, dass ich grundsätzlich das Recht hatte mich hier gegen zu wehren und zu kämpfen, nur musste ich selbst noch herausfinden wie.
Und heutzutage?
Ich hatte gehofft, dass heutzutage alles anders läuft; es mehr Transparenz und Aufklärung in Kindergärten und Schulen gibt. Trotzdem gibt es zu viele Berichte und Erlebnisse, die verdeutlichen, dass oft immer noch genau dieselben Probleme vorliegen. Die Sache ist, es ist ein schwieriger und unangenehmer Diskurs, es fehlen Kompetenzen und teilweise auch der Wille sich mit diesem auseinanderzusetzen.
Doch wie wir mit den ersten Rassismuserfahrungen eines Kindes umgehen und auf die ersten Rassismusausübungen eines anderen Kindes reagieren (oder eben nicht), prägt nicht nur diese Kinder für den Rest ihres Lebens, sondern spiegelt auch eine entblößte Bestandsaufnahme unserer Gesellschaft wieder.
Bis heute mache ich die Erfahrung, dass zu viele Weiße Menschen in Deutschland immer wieder rassistische Äußerungen als Witz oder harmlosen Kommentar versuchen darzustellen, dabei ist und war es das noch nie. Doch wenn es dir schon so jung als “nicht weiter schlimm” vermittelt wird, ein anderes Kind rassistisch zu beleidigen und auszugrenzen, ist die Hemmschwelle umso geringer weiter auszugrenzen, schlimmer zu beleidigen, das gleiche Verhalten an die eigenen Kinder weiterzuvermitteln. Und dann geht alles von vorn los. Und von vorn, von vorn, von vorn.
Das System zerstören
Diese Kreisläufe müssen zerschmettert werden. Das System muss demoliert werden – von Grund auf.
Kein einziges rassistisches Erlebnis oder Ereignis – und schon gar nicht das eines kleinen Kindes – sollte einfach unkommentiert im Raum stehen gelassen werden. Kein einziger rassistischer Kommentar sollte entschuldigt und verharmlost werden. Keine einzige rassistische Tat sollte durch “psychische Krankheit”, eigenes Trauma oder andere Schein-Begründungen gerechtfertigt werden.
Es ist eine schmerzhafte Erkenntnis, dass wir alle zum Rassismus erzogen werden.
Doch das Wissen, die Kompetenzen hier gegenzuwirken, müssen wir uns alle aneignen, weitergeben, stetig weiterlernen, insbesondere jenen, die selbst ihr Leben lang Rassismus und Diskriminierung erfahren haben, zuhören. Im Moment bleiben viele Auseinandersetzungen mit Rassismus und Diskriminierung noch zu oberflächlich. Nur wenn wir den Rassismus auch im Kern bekämpfen, auch schon im allerkleinsten Auftreten dieser Denkstrukturen, haben wir eine Chance ihn aus dem gesellschaftlichen und politischen Alltag dauerhaft zu verdrängen.
Viele von uns wissen das alles natürlich längst, doch wir müssen es weitergeben, wiederholen, teilen, verbreiten, uns von der Seele schreiben, in die Welt hinausschreien!
Dann mach ich es halt selbst
Denn erstmal blieb ich lange allein mit meinen Fragen an die Welt, den stetigen und zunehmenden rassistischen Erlebnissen in meinem Alltag, meiner wachsenden Wahrnehmung von diesen, und einem Umfeld, das mir wenig Kontext und Verständnis bot. Doch wissbegierig und autodidaktisch fing ich ab dem „Schokokuchen”-Moment an, dass Wissen, die Erkenntnisse, die Veränderungen, die wir in dieser Welt benötigten selbst zu erkämpfen.
Und das tat ich. Und das tun wir immer noch. Käsekuchen hin oder her.
„Umzingelt von Käsekuchen“ jetzt auch als Audio hören:
Tessa
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