Was wir von der südafrikanischen Lebensphilosophie Ubuntu in Zeiten von Corona lernen können?
Eines morgens wachte ich auf und sah ein Video. Meine beste Freundin schickte mir eine Aufnahme, die sie in einem Drogeriemarkt erlebte. Eine sehr wütende Frau verstaute stapelweise Klopapier in ihrem Einkaufswagen. Die Verkäuferin, die diese gerade erst aus dem Lager geholt hatte, war entsetzt. Sie stritten sich. Intensiv und heftig. Willkommen in der Corona-Ära. In einer Zeit, in der sich soziale Interaktionen, zwischenmenschliche Beziehungen und die Definition von Knigge verschiebt. Das oben beschriebene Phänomen wird als “Hamstering” bezeichnet. Es wird sehr viel gekauft. Für sich allein. Erst ich und dann die Sinnflut. In dieser Pandemie erkennen wir die Schattenseiten unserer individualisierten Leistungsgesellschaft. Was bedeutet das denn genau und inwiefern könnte uns die südafrikanische Lebensphilosophie Ubuntu hier hinaus manövrieren?
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Die Realisierung, welche Jobs wirklich essentiell sind
Corona. Es ist fucking real! Von einen Tag auf den anderen, machten meine Freunde*innen und ich noch unkreative Witze, dann sahen wir die Pressekonferenz von Angela Merkel. Wir sollen soziale Interaktionen vermeiden, sagte sie. Ab da, wurde der Ernst der Lage klar. Zumindest bei meiner Mitbewohnerin und mir. Wir haben unseren Alltag drastisch heruntergefahren, indem wir nur noch das Nötigste tun, wie beispielsweise in den Supermarkt gehen. Als ich gestern kurz durch die Stadt lief und sah, wie viele Geschäfte geschlossen waren, realisierte ich: Wer und welche Berufe in einer Notlage essentiell sind: Krankenhäuser, Pflegeberufe, alle Menschen, die für die öffentliche Beförderung verantwortlich sind und die Lieferketten, sowie Verkäufer*innen im Supermarkt. Ohne letztere hätten wir kein Essen! Es handelt sich zum Großteil um Berufe, die in prekären Verhältnissen arbeiten. Jobs, die in unserer kapitalistischen Gesellschaft nicht als prestigeträchtig angesehen werden. Als ich gestern im Supermarkt an der Kasse stand, sagte die Person vor mir beim Bezahlen zur Verkäuferin: “Danke! Danke, dass Sie heute da sind,” und ging. Die Verkäuferin und ich schauten der Frau nach und sahen uns lächelnd an.
“Ich bin”, weil “wir sind”.
Dankbar zu sein, weil eine Frau ihrem Job im Supermarkt nachgeht, wirkt in Zeiten außerhalb Coronas kurios. Doch nun, in dieser realen Krise, erkennen wir eines: Ich bin, weil wir sind. Das ist die Kernessenz von Ubuntu, einer südafrikanischen Lebensphilosophie. Das Wort kommt aus den Bantusprachen der Zulu und der Xhosa und bedeutet in etwa „Menschlichkeit“, „Nächstenliebe“ und „Gemeinsinn“ sowie die Erfahrung und das Bewusstsein, dass man selbst Teil eines Ganzen ist. All die Glieder und Ketten, die Verbindungen, die wir zueinander haben, werden mir in der Not erst bewusst. Denn in Deutschland ist das ultimative Ziel, die Selbstverwirklichung, Freiheit, Selbstbestimmung und das Ich.
Was ist denn der Unterschied zwischen einer Wir- und Ich-Gesellschaft?
Individualistisch orientierte Gesellschaften zeichnen sich eher durch lose, unverbindliche soziale Bindungen aus. Im Vordergrund steht das Selbst und sich um seine (kleine) Kernfamilie zu kümmern. Die Menschen handeln autonom, selbstorientiert und grenzen sich von anderen Individuen ab, so Ulrike Neumann in ihrem Essay Individualistische vs. Kollektivistische Kulturen. Das kollektivistische Normensystem verlangt Solidarität, Kameradschaft, Gemeinschaftsgeist oder auch Liebe, letztere insbesondere in religiösen oder familiären Gemeinschaften. Nun ist es nicht unser Ziel mit diesem Beitrag, die individualisierte Gesellschaft zu bashen. Die Entwicklung von den beiden Wertesystemen, hat soziale, religiöse, und vor allem historische Ursachen. Mitteleuropäische Kulturen sind durch die Aufklärung und der französischen Revolution geprägt, so Neumann. Liberalismus, Freiheit des Einzelnen und Unabhängigkeit spielten in den Werken von Voltaire, John Locke, Herder sowie Schiller eine entscheidende Rolle. “Die Idee, den Menschen aus seiner Unmündigkeit zu befreien und damit eine modernere gesellschaftliche Entwicklung voranzutreiben, bildet den Grundstein für unsere heutige Demokratie,” laut Ulrike Neumann. Doch der Vergleich beziehungsweise das Konzept, wurde durch den niederländischen Industriepsychologen Geert Hofstede geprägt. Hofstede begann in den 60er Jahren, Fach- und Führungskräfte in global agierenden Unternehmen über arbeitsbezogene Wertvorstellungen zu befragen. Dabei stellte er fest, dass die höchsten Individualismuswerte Länder wie Großbritannien, die Niederlande, die USA, Kanada, Australien, Belgien sowie Dänemark erreichten. Die niedrigsten Individualismuswerte entfielen auf Länder wie Thailand, Pakistan, Indien, Guatemala und Peru. Deutschland erreichte in dieser Dimension einen mittleren Wert.
Wir fühlen eine ähnliche Angst
Zurück zum Supermarkt und zum Klopapier und zu dem größten Faktor, der gerade einige Menschen in Deutschland umtreibt: Die Angst. Wir wissen nicht, wie lange es so weitergeht und diese Ungewissheit macht Angst. Auch mir. Ich bin vor kurzem über den Satz von Hlumelo Siphe Williams auf global citizen gestolpert: “As a society, looking after one another plays a major role in the success of humanity.” Individualismus unterstützt Kapitalismus. Es bringt Arm und Reich weiter auseinander. Denn wenn jede Person sich nur um seinen eigenen Braten kümmert und den seiner Familie, ist es leichter zu akzeptieren, dass der eigene Wohlstand auf den Rücken von anderen Menschen getragen wird. Die Vermögensungleichheit in Deutschland ist verdammt hoch. Ubuntu zeigt uns: Ich bin, weil wir sind. Ich bin reich, weil du arm bist. Doch in Zeiten von Corona wird klar, dass Geld dich nicht vor Krankheiten schützt. Zugegeben, du kannst dich abschotten. Doch auch der Topmanager muss in den Supermarkt gehen und ist somit abhängig davon, ob die Verkäuferin oder der Verkäufer auch weiterhin zur Arbeit erscheint. Ich bin, weil wir sind. Das was wir aktuell in Deutschland erleben, ist eine kollektive Erfahrung: Angst. Selbstverständlich in unterschiedlichen Graduierungen. Die Barbesitzer*innen, der oder die Freelancer*innen stehen vor großen ökonomischen Herausforderungen. Der oder die Busfahrer*innen sowie die Verkäufer*innen sind so vielen Menschen ausgesetzt, dass die Bedenken einer Erkrankung nachvollziehbar sind. Sobald ich Aushänge sehe, auf denen Menschen anderen Menschen anbieten, für sie einkaufen zugehen, deren Erkrankung lebensbedrohlich enden könnte, schöpfe ich Hoffnung. Dann stelle ich mir die Fragen: Was lernen wir aus der Pandemie und bringt uns diese kollektive Erfahrung näher zusammen oder schotten wir uns noch mehr voneinander ab?
Ciani
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